Als ich 1977 in Berlin zu studieren begann, war an den Hochschulen die Demontage moderner Architektur und Planung in vollem Gange. Mies van der Rohe oder Le Corbusier stellten die Inbegriffe verblendeter Planungskultur dar, die auf jeder Ebene versagt hatten. In meinem unmittelbaren Umfeld hatte sich ein so potenter moderner Architekt wie Ludwig Leo auf eine Art von „Partizipationismus“ reduziert, der, gemessen an seinen kraftvollen und heroischen Bauten, geradezu erniedrigend schien. Wir bewunderten die Tatsache, dass er Casabella-Journalisten auf der Suche nach neuen Projekten in einen Kreuzberger Keller führte, in dem er gerade mit einigen Hausbesetzern im Selbstbau ein gemeinschaftliches Badezimmer eingerichtet hatte. Für jemanden, der von Architektur begeistert war, Lust am Entwerfen und Gestalten, an konstruktiver Intelligenz und raumhafter Schönheit hatte, schienen alle Wege versperrt. […]

Als ich 1981 ein Stipendium nach England erhielt, war ich froh, der – wie ich es sah – recht ideologiegetränkten und fantasiefeindlichen Atmosphäre Berlins zu entkommen. In England war die Technikbegeisterung der Moderne, von Buckminster Fuller, Prouvé, Chareau geleitet bei Projekten wie dem Centre Pompidou oder dem Lloyds Building angekommen. Natürlich war das Motiv der Moderne, „die Gegenwart zum Funktionieren zu bringen“, auch das zentrale Anliegen der Hightech-Generation, jedoch wurde dieses Motto recht buchstäblich in einen quasi technologischen Funktionalismus umgesetzt. […]

Unsere eigene Architektur entstand – theoretisch gesprochen – in diesem Spannungsfeld zwischen der Tradition der Moderne und ihrer Revision. Der Begriff einer Reflexiven Moderne, dem Ulrich Beck geprägt hat, scheint vielleicht angemessen. Er umschreibt eine Haltung, die letztlich der Gegenwart und der Zukunft vertraut, aber ihre Lösungen im Bewusstsein der Grenzen des Fortschritts erarbeitet und bereit ist, den eigenen Ansatz zu reflektieren und zu revidieren. Es ist eine Architektur, die eine klare Position vertritt, ohne in ein Dogma zu verfallen. […]

Wir befinden uns am Ende der Industriegesellschaft und wir haben zu Recht gegenüber Technik und Fortschritt ein weit kritischeres Verhältnis, als dies zu Beginn des Jahrhunderts der Fall gewesen war. Wir operieren nicht mehr vor dem Hintergrund einer mehr oder weniger bürgerlichen Gesellschaft, sondern in einem Umfeld, das auch im sozialen Bereich zunehmend fragmentiert ist, und – vielleicht am dramatischsten – wir sind mit dem Klimawandel und der Verknappung natürlicher Ressourcen konfrontiert. Dennoch bleibt die Verbindung von Rationalität (der Herstellungstechnik und der Planung) ebenso wie die Integration des gesamten Spektrums ästhetischer Ausdrucksmittel, wie sie heute noch (exemplarisch) am (Gebäude des) Bauhaus zu sehen ist, zumindest für uns beispielhaft. Diese Dimension tatsächlicher Integration stellt eine Qualität dar, die in der Zwischenzeit eher verloren gegangen ist und unsere Generation erst wieder erarbeiten muss. […]

 

Vortrag von Matthias Sauerbruch, gehalten im Juli 2002 anlässlich der UIA Welt-Architekturkonferenz [Auszug]. Vollständiger Text veröffentlicht in Sauerbruch Hutton. Archive. Baden: Lars Müller Publishers, 2006