Vorurteile gegenüber der Farbe

Eine Vorliebe für den weißen Körper gegenüber der dekorierten Fläche lässt sich bis zu Platons Ideal zurückverfolgen, und ähnliche dialektische Paare sind etwa apollinisch und dionysisch, klassisch und romantisch, disegno und colore und so weiter. Über alle Kulturen hinweg wird mit Weiß – ob aufgetragen oder als Materialfarbe – Licht, Reinheit, Unschuld, Heiligkeit und Perfektion assoziiert. Weiß steht für Wahrheit, für das Wesentliche. Die Verwendung von Farbe lenkt von dem Ideal ab und führt hinab in die niederen Gefilde der (schmutzigen) Realität.

Weiß spricht den Intellekt an und ist ein Zeichen von Bildung, wohingegen Farbe eine direkte und daher nicht vertrauenswürdige Wirkung auf den Instinkt hat. Ebenso spricht man von der angeblichen Überlegenheit der intellektuellen Erfassung des Raums gegenüber der sinnlichen Erfahrung eines körperlich wahrgenommenen Raums. Und somit erstreckt sich dieses Vorurteil bis hinein in den Bereich der Bedeutung von Farbe in der Architektur.

Zudem besteht ein Vorurteil gegen die „Oberflächlichkeit“ des Auftragens von Farbe auf eine Fläche. Dies ist mit der physikalischen Instabilität der Farbe verbunden, und die daraus resultierende Kurzlebigkeit der Oberfläche gilt als Unterminierung der seriösen und dauerhaften Solidität des Körpers – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. So wurde und wird also die farbige Oberfläche gegenüber dem Primat des weißen Körpers als zweitrangig angesehen; wenn die Form nicht farbig sein kann, kann sie folglich nur weiß sein.

David Batchelor hat es so formuliert: „Im übertragenen Sinne steht Farbe seit jeher für das Weniger-als-Wahre und das Nicht-ganz-Wirkliche. Das lateinische colorem ist mit celare verbunden, was verstecken oder verbergen bedeutet. Auf Mittelenglisch bedeutet to colour verschönern oder verzieren, tarnen, verbergen oder verfälschen.“ Und weiter: „Farbe steht für das Ungehorsame, das Exzentrische, das Irreguläre und das Subversive […] Als bunt bezeichnet zu werden ist gleichzeitig Schmeichelei und Beleidigung. Bunt zu sein bedeutet, sich zu unterscheiden, und auch, abgelehnt zu werden […] Farbe bedeutet Unsicherheit, Zweifel und Veränderung […] Farbe ist anders.“ [David Batchelor: Chromophobia, 2000]

Derselbe Autor schreibt über die hieraus resultierende chromophobie, die „sich in den zahlreichen verschiedenen Versuchen widerspiegelt, die Farbe aus der Kultur zu verbannen, sie zu entwerten, ihre Bedeutung zu schmälern, ihre Komplexität zu leugnen“. Dies geschieht auf zweierlei Art und Weise. Zum einen „wird die Farbe als die Eigenschaft des Fremden gesehen – gewöhnlich des Femininen, des Orientalischen, des Primitiven, des Infantilen, des Vulgären oder des Pathologischen. Zum anderen wird Farbe in den Bereich des Oberflächlichen, Nebensächlichen, Unwichtigen oder des Kosmetischen verbannt. Im ersten Fall wird die Farbe als fremdartig und damit als gefährlich betrachtet. Im zweiten Fall wird sie lediglich als eine zweitrangige Eigenschaft der Wahrnehmung empfunden und gilt somit als einer ernsthaften Betrachtung unwürdig. Farbe ist gefährlich oder trivial oder beides.“ [Batchelor: Chromophobia]

Damit verbunden stellt sich natürlich auch die Frage des Geschmacks. Goethe bemerkte hierzu: „Endlich ist noch bemerkenswerth, daß wilde Nationen, ungebildete Menschen, Kinder eine große Vorliebe für lebhafte Farben empfinden, daß Thiere bei gewissen Farben in Zorn geraten, daß gebildete Menschen in Kleidung und sonstiger Umgebung die lebhaften Farben vermeiden und sie durchgängig von sich zu entfernen suchen.“ [J. W. Goethe: Farbenlehre, 1810] Und als Ruskin schrieb, dass in der Architektur maximal Farben von Natursteinen eingesetzt werden dürften, brachte er nicht nur die Empfindungen vieler seiner, sondern auch unserer Zeitgenossen zum Ausdruck. Dieses Vorurteil ist heute noch genauso stark ausgeprägt wie ehemals.

 

Semper und die Polychromie

In der Diskussion über das Für und Wider der Polychromie in der Architektur wurden viele unterschiedliche Argumente vorgebracht. In der vorletzten Debatte ging es um den Gegensatz zwischen dem neoklassizistischen Festhalten an Weiß und der durch die archäologischen Expeditionen in den 1830er Jahren neu entdeckten Polychromie, wobei die Befürworter der Letzteren argumentierten, dass die Verwendung von Farbe nicht zufällig, sondern essenziell gewesen sei. Semper gehörte natürlich dieser Gruppe an. Für ihn war Farbe die erhabenste Form der Dekoration und nicht, wie für andere Architekten, nur eine dekorative Bereicherung der Architektur.

Semper definierte die Architektur eher über ihre äußere Deckschicht als über die Struktur des Materials. Sein Blick auf die Anfänge der städtischen Architektur reichte zurück bis zu den ersten Strukturen, die zum vorübergehenden Gebrauch bei Prozessionen oder Zusammenkünften für religiöse gemeinschaftliche Zwecke errichtet wurden. Dabei wurden provisorische Gerüstbauten mit Stoff behangen. Das Gerüst diente nur dazu, den Stoff zu halten, der die symbolische und architektonische Funktion der Dekoration und des Ritus erfüllte und damit eine Atmosphäre schuf – der Beginn räumlicher Einfassung. Der Stoff war gewebt. Daher liegt für Semper der Ursprung der Architektur – die räumliche Einfassung zu symbolischem oder funktionalem Zweck – in gewebtem Stoff.

Semper entwickelte eine Theorie, die er Stoffwechsel nannte. Mit dieser Bezeichnung wollte er den Wechsel der formalen Eigenschaften von einem Material zu einem anderen – oder nachfolgenden – Material beschreiben. Die von ihm verwendeten Begriffe stimmten mit denen der gerade aufkommenden Evolutionstheorie überein. Beispielsweise deutet er die Farbschicht, die in späteren Zeiten des Massivbaus (also nach den ersten oben erwähnten provisorischen Gerüstbauten) auf die Gebäude aufgetragen wurde, als Fortführung der ursprünglichen Stofftradition mit einer Farbschicht auf der Oberfläche. Dies formte den Raum. So wurden das tragende Material und die Struktur durch diese Farbschicht verdeckt, über die Semper schrieb, sie sei „die subtilste körperloseste Bekleidung […] Sie ist das vollkommenste Mittel die Realität zu beseitigen, denn sie ist selbst, indem sie den Stoff bekleidet, unstofflich.“ [Gottfried Semper: Der Stil, 1860]

Daher überrascht es nicht, dass hinsichtlich der Diskussion über den Gegensatz zwischen Form und Oberfläche Sempers Vorliebe der Oberfläche galt. Indem Semper die Oberfläche gegenüber der Form bevorzugte, richtete sich sein Interesse auf die Verführung durch die Oberfläche oder, wie Mark Wigley es ausdrückt, auf eine „mit Sinnlichkeit verwobene Visualität“. Semper selbst bemerkte in Bezug auf Farbe, sie zähle zu den frühesten Erfindungen, weil der Mensch gewissermaßen durch das instinktive Bedürfnis nach Genuss inspiriert wurde: „Die Lust an der Farbe ist früher entwickelt als die Lust an der Form.“ [Semper: Der Stil]

Im Jahr 1907 veröffentlichte Adolf Loos unter Bezugnahme auf Sempers Schriften (insbesondere Über die formelle Gesetzmäßigkeit des Schmuckes und dessen Bedeutung als Kunstsymbol) sein Buch Ornament und Verbrechen, in welchem er seinen Argwohn gegenüber der Sinnlichkeit von Schmuck äußerte. So wurde das Ornament entfernt, um die dekorativen Auswüchse vergangener Perioden auszumerzen, und die reine Abstraktion der Form wurde das Ziel.

 

Farbe und Architektur in den 1920er Jahren

Der Impuls für den Einsatz von Farbe in der modernen Architektur ging von der Malerei aus. In der ersten Dekade des Jahrhunderts wurde hier die Farbe von der Form befreit (beispielsweise im Werk Ferdinand Legers), und genau diese Freiheit in der Verwendung von Farbe war für die Architekten von Interesse und Relevanz. Sie mussten neue Wege der Kombination von Farbe und Architektur erfinden, ohne in die frühere feststehende Assoziation von Farbe mit dem Dekorativen und Ornamentalen zurückzufallen, war doch beides in dem radikalen Neustart der Moderne zusammen mit den alten Formen resolut abgeschüttelt worden.

Ich werde kurz auf die Arbeiten dreier Architekten eingehen, die in den 1920er Jahren Farbe verwendeten. Sie alle unterschieden sich in ihren Zielen, Methoden und Resultaten: van Doesburg in Zusammenarbeit mit van Esteren; Le Corbusier; Bruno Taut. Alle drei überwanden die Tradition, indem sie eigene Ansätze für die Arbeit mit reinen Farbflächen entwickelten und direkt auf die Architektur anwandten. Interessanterweise hatten diese Architekten entweder Mitstreiter, die als Maler arbeiteten, oder sie hatten gleichzeitig oder zuvor eine eigene Künstlerkarriere als Maler gemacht.

Theo van Doesburg, der mit dem Maler Cornelis van Esteren zusammenarbeitete, schuf fließende Räume, die durch schwebende Farbebenen gegliedert wurden. Form und Farbe wurden als zwei gegensätzliche, aber gleichwertige Systeme angesehen, durch deren Kombination Räume entstehen, welche kaum zusammenhalten – eine sich optisch auflösende physische Form.

Die Farbpalette von De Stijl war sehr begrenzt, und ebenso beschränkten die Formen sich auf das Geradlinige. Die Intention war auf Abstraktion ausgerichtet, durch die die Volumen zerstört wurden. Die schwebenden Farbebenen wurden, wie Gideon es formulierte, „in fließende Beziehung zueinander gebracht“.

Le Corbusier bezeichnete De Stijls Verwendung von Farbe nach dem Ansatz von van Doesburg als camouflage architecturale und lehnte deren Einsatz zur Unterminierung des physischen Raums ab. Nachdem er in den zwanziger Jahren das „Weiße“ propagiert hatte (und in Vers une Architecture von 1923 die Farbe mit keinem Wort erwähnt), übertrug Le Corbusier schließlich seine Ideen von Räumen mit mehreren Ebenen, die er in seinen puristischen Gemälden verfolgt hatte, auch auf seine Architektur. So stellte Arthur Rüegg fest, dass der Architekt Le Corbusier und der Maler Le Corbusier in der Villa la Roche vereint seien. Mit den Raumschichten in seinen (und Ozenfants) puristischen Gemälden werde die Villa zu einem Stillleben.

Nach der Auffassung von Le Corbusier sollte Farbe nicht eingesetzt werden, um die räumlichen Proportionen aufzuheben. Er tendierte dazu, Farbe auf ganze Wandflächen aufzubringen, so dass die Wände als einzelne Elemente zu Vehikeln der Farbe wurden. Der räumliche Gesamteindruck seiner Architektur sollte hierdurch nicht gestört werden. Die Farbebenen, vorwiegend in einer Palette von Erdfarben und natürlichen Tönen, die auf Grund ihrer assoziativen Wirkung ausgewählt wurden (zum Beispiel Hellblau steht für Himmel), sollten auf Grund ihrer Eigenschaften in Bezug auf die Wahrnehmung den Raum verändern, wobei hellblaue Wände nach hinten rücken, braune Wände stabilisieren. Auf diese Weise wurden sie zu einer festen Verankerung der räumlichen Komposition – wie in den Bildern der Puristen. In seiner Gesamtheit blieb der Raum jedoch weiterhin überwiegend weiß gestrichen, wobei die farbigen Flächen als Eingriffe erscheinen, die gegen diesen neutralen Hintergrund ausgespielt werden. Batchelor macht hierzu die interessante Bemerkung, dass Le Corbusiers Einsatz von Farbe dessen Architektur „sogar umso weißer“ mache. Farbe wird hier also nicht verwendet, um Raum zu schaffen, sondern um ihn zu kontrollieren.

Bei der Wohnsiedlung in Pessac bei Bordeaux (1924) jedoch hat Le Corbusier meiner Ansicht nach in Wirklichkeit zwar keine camouflage architecturale, wohl aber eine camouflage urbaine angewandt. Er schreibt: „Die Siedlung in Pessac war sehr beengt. Die grauen Betonhäuser wirkten unerträglich komprimiert und massiv, und es mangelte an Luft. Farbe war die geeignete Lösung, um Raum zu schaffen […] Einige Mauerflächen sind in gebranntem Siena gestrichen, während ganze Häuserzeilen durch helles Ultramarineblau nach hinten rücken. An anderer Stelle vereinigen sich hellgrüne Fassaden mit dem Blattwerk der Gärten und Bäume.“ [Le Corbusier: L’Architecture Vivante, 1927] Zeitweise wird eine Auflösung der Form erreicht, wenn an Kanten verschiedenfarbige Flächen aufeinander treffen und hiermit die Solidität der Architektur herausgefordert wird. Man könnte sagen, dass die „camouflage“ beabsichtigt ist, da Le Corbusier die Architektur mit der Landschaft verschmelzen lässt. Doch unabhängig davon, ob er bei seinen Projekten die Farbe letztlich zur Kontrolle oder zur Erschaffung von Räumen einsetzte – Le Corbusier hatte verstanden, dass die Polychromie die Bandbreite der Gestaltungsmöglichkeiten des Architekten erweitert: „Mit der Polychromie steht dem begabten Architekten ein unerschöpflicher Reichtum an Ressourcen zur Verfügung […] Die Polychromie ist als architektonisches Mittel ebenso wichtig wie Grundriss und Querschnitt.“

Im Gegensatz zu van Doesburg und Le Corbusier, die für die Verwendung von Farbe in ihrer Architektur künstlerische Beweggründe hatten, bestand die Intention Bruno Tauts vorrangig darin, Farbe als Wirkkraft sozialer Reformen einzusetzen. Seine Verwendung großer Farbflächen an den Mauerwänden (und sogar Farbvariationen innerhalb einzelner Fensterrahmen) bei seinen Berliner Wohnsiedlungen stand für Freiheit und die Vermeidung von Monotonie. Er widmete sich der sozialen Aufgabe, innerhalb großer Wohnsiedlungen Identitäten zu schaffen – insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Menschen, die in seine Siedlungen zogen, aus den überbelegten Wohnungen der ungesunden und beklemmend eintönigen Hinterhöfe Berlins kamen, dessen urbane Struktur im 19. Jahrhundert „aus allen Nähten“ platzte.

Tauts Äußerungen zur Polychromie ähneln denen Le Corbusiers. „Da die Farbe die Fähigkeit hat, die Abstände der Häuser zu vergrößern oder zu verkleinern, den Maßstab der Bauten so oder so zu beeinflussen, sie also größer oder kleiner erscheinen zu lassen, die Bauten mit der Natur in Zusammenhang oder in Gegensatz zu bringen und all dergleichen mehr […], so muß auch mit ihr ebenso logisch und konsequent wie mit jedem anderen Material gearbeitet werden.“ [Bruno Taut: Die Farbe, Fachblatt für Maler, 1931] Le Corbusier warf er allerdings vor, Farbe nur rein ästhetisch zu verwenden: „Seine Architektur beruht auf einer reinen Salonästhetik. Der Architekt baut hier so, wie der Maler seine Bilder malt, d. h. er baut Bilder.“

Ungeachtet der Arbeiten dieser Architekten und ihrer Mitstreiter folgte hiernach der Mythos der Weißheit, wie er von Le Corbusier bereits in den späten zwanziger Jahren propagiert worden war (offenbar nach einem Sinneswandel, nachdem er die „weiße“ Akropolis gesehen hatte). 1927 setzte die treffend Weißenhof genannte Siedlung in Stuttgart mit ihren weiß gestrichenen kubistischen Bauten endgültig den Trend.

Le Corbusier warb für das Weiß nicht nur im Sinne einer ästhetischen, sondern auch einer moralischen Haltung mit dem Hinweis auf Wigleys Beobachtung, wonach die Gebäude weiß gestrichen und somit nicht nackt seien, was zu sinnlich gewesen wäre. Farbe wurde als unnötiger Zusatz zu der formalen und konstruktiven Idee von Architektur betrachtet. Ihre Irrationalität galt als Bedrohung für die rationale und damit quantifizierbare Logik des Funktionalismus. Das beherrschende Monopol der Weißheit wurde durch das Ausblenden von Farbe und Material in der Schwarzweiß-Fotografie und durch die zuweilen recht selektive Berichterstattung der Journalisten noch unterstützt.

 

Farbe als Ressource

Infolge der technologischen Entwicklung haben sich seit der Zeit von Semper und Loos wie auch seit der Zeit von Doesburg, Le Corbusier und Taut sowohl die Art als auch die Gestaltungsmöglichkeiten von Oberflächen stark verändert. Dennoch sind ihre Überlegungen auch heute noch relevant. Obwohl wir bestimmte Aspekte des Erbes der Modernisten kritisch bewerten, kann man sagen, dass wir mit unserer Arbeit im Büro Sauerbruch Hutton generell daran anknüpfen. Für uns schließt dies die Möglichkeit mit ein, Farbe als Ressource zur Schaffung von Raum zu nutzen. Denn wir glauben, dass das Credo der Modernisten von der „Wahrheit des Materials“ sich mit dem erweiterten Blickwinkel auf das Potenzial von Farbe verbinden lässt.

Als Matthias Sauerbruch und ich Ende der 1980er Jahre unser Büro gründeten, verbrachten wir viel Zeit damit, Zeichnungen für verschiedene Wettbewerbe anzufertigen. Dabei stellten wir fest (wie bereits andere vor uns), dass man sich die Fähigkeit der Farbe, Raum zu schaffen, zu Nutze machen kann – durch die Zusammenstellung von dunkleren und helleren oder die Kombination kälterer und wärmerer Farbtöne. Helle Farben und Blau weichen zurück, dunkle Farben wirken als Anker, Rot rückt näher heran, zum Beispiel.

Dieses Phänomen wurde von Josef Albers in seinem Buch Interaction of Color umfassend dokumentiert. Mit gleicher Überzeugung bringt er die Betrachtungen in seiner Bildserie mit dem Titel Homage to the Square zum Ausdruck, in welcher er die Schaffung unterschiedlicher Räume innerhalb der Konstante eines quadratischen Formats untersucht. Den Raum, der erscheint, nennt der Maler actual fact, wohingegen er den physikalischen Raum der Leinwand als factual fact bezeichnet. Albers bemerkte hierzu: „In visueller Wahrnehmung wird eine Farbe beinahe niemals als das gesehen, was sie wirklich ist, das heißt als das, was sie physikalisch ist. Um Farbe mit Erfolg anzuwenden, muß man erkennen, daß Farbe fortwährend täuscht […] Was hier zählt, ist nicht sogenanntes Wissen über sogenannte Tatsachen, sondern Vision – Sehen.“ [Josef Albers: Interaction of Color, 1963] Indem er uns an das Trügerische in der Erscheinung erinnert, betont Albers so anstelle der rationalen die erfahrbare Seite der Wahrnehmung.

Wir lassen uns von der Atmosphäre und den transzendenten Qualitäten bestimmter Kunstwerke inspirieren. Doch es besteht natürlich ein großer Unterschied zwischen der Wahrnehmung eines bewohnten Raums und der eines (primär) visuellen Raums wie im Fall eines Gemäldes oder einer Installation. Der bewohnte Raum wird nicht nur gesehen, sondern man kann ihn auch berühren, fühlen, riechen, hören – und all dies, während man seinem normalen täglichen Leben nachgeht. Er wird daher meistens – vielleicht unterbewusst – nur als Hintergrund der eigenen täglichen Handlungen wahrgenommen; wohingegen der Kunst-Raum, auch wenn er die eigene körperliche Wahrnehmung beschäftigt, generell in dem sowohl räumlich als auch formal losgelösten Kontext einer Galerie oder eines Museums gesehen und erfahren wird. Doch trotz oder vielleicht wegen der zwangsläufigen Solidität der Architektur und ihrer Schaffung von Räumen für noch so banale Aktivitäten kann man versucht sein, ihrer Substanz und Permanenz auf der Suche nach dem Immateriellen und dem Flüchtigen zu entkommen.

Natürlich entstehen Räume in erster Linie nicht nur durch Farbe oder farbiges Licht wie in den Arbeiten einiger Künstler, beispielsweise den Installationen von James Turrell. So kombinieren wir Farbe gern mit natürlichen Materialien. Dabei bilden wir bewusst Kontraste zwischen farbigen Flächen und Flächen aus Naturmaterialien wie Holz, Edelstahl, Glas (mit variierenden Graden von Transparenz und Reflektivität), Beton (poliert und rau), fein geschliffenen glatten Gipsflächen, dem Glanz einer verchromten Oberfläche, den verschiedenen Texturen unterschiedlicher Steine, Gusseisen usw. Zu der Vielfalt solcher Kombinationen kommt die Materialität der Farbe selbst: ihre Oberflächentextur sowie ihre Leuchtkraft- oder Absorptionseigenschaften. Farbe ist daher nie nur abstrakt. Die Farbanstriche weisen unterschiedliche Texturen und Reflexionseigenschaften auf, durch die sie mit einer feinen Oberflächentiefe oder auch als matte ebene Fläche erscheinen können – oder mit der reflektierenden Tiefe, wie im Fall einer lackierten glatten Fläche. Nicht zu vergessen natürlich die Kombination von Farbe und Glas, die sich die verschiedenen Grade von Transparenz, Lichtdurchlässigkeit und Reflexion zu Nutze macht.

Der einzige Bereich, in dem die Räume von Kunst und Architektur buchstäblich zusammenkommen, findet sich bei den trompe-l’oeil. Hier ist der Raum des Gemäldes in den Raum seiner Umgebung integriert, wobei die Ambiguität der Wahrnehmung zwischen zwei und drei Dimensionen erkannt wird und dadurch gleichzeitig auch Vergnügen bereitet. Dabei kann die Illusion eines einheitlichen Raums überwiegen, oder es entsteht eine oszillierende Bewegung zwischen Albers‘ actual und factual, sobald der rationale Teil unseres Gehirns die Täuschung erfasst hat. Eine ähnliche Art der Täuschung – die Schaffung einer Illusion durch die Ausdehnung oder Kontraktion eines realen Raums – kann durch den Einsatz von Spiegeln erreicht werden, wie in dem berühmten Beispiel des Spiegelsaals in Versailles oder, in heutiger Zeit, bei den Installationen von Dan Graham, oder überhaupt in fast jedem Fahrstuhl von Unternehmen oder Hotels und in jedem Badezimmer weltweit.

Die optische Auflösung oder die Manipulation der Form bringt Ungewissheit, Zweifel und Ambiguität mit sich. Sie involviert den Betrachter und bringt ihn dazu, erneut hinzuschauen. Ich denke hierbei an Jacques Lacans Verweis auf eine leere Sardinenbüchse, die „die Ambiguität von Edelsteinen“ habe, indem sie im Meer trieb und in der Sonne glitzerte. Dies ist vergleichbar mit der Täuschung des trompe-l’oeil, bei dem die Imagination uns gefangen hält und ihr Spiel mit uns treibt. Ich möchte nicht das Sehen über unsere anderen Sinne der räumlichen Wahrnehmung stellen – die körperliche, die kinetische, die haptische, die auditive, die olfaktorische Wahrnehmung. Aber das Sehen ist, wie Albers bemerkte, eng mit der Fantasie, der Vorstellungskraft verknüpft. Wir versuchen, eine Architektur zu schaffen, die ihren Nutzer aktiv anspricht. Vielleicht ist dies eine Analogie zu T. S. Eliots Beschreibung vom Lesen als einem kreativen Akt, bei dem man, indem man aktiv liest, den Schaffensprozess mit dem Autor teilen kann.

 

Vortrag zum Symposium „Gottfried Semper (1803–79): Griechenland und die Architektur der Gegenwart“ in Athen, Oktober 2003 [Auszug]. Vollständiger Text veröffentlicht in Sauerbruch Hutton. Archive. Baden: Lars Müller Publishers, 2006