Berlin hat in den letzten zwölf Jahren [zwischen 1990 und 2002] seine so genannten zweiten Gründerjahre durchlebt. Der Begriff bezieht sich auf die Gründerzeit nach dem deutsch-französischen Krieg 1870–71, der mit der Gründung des deutschen Reiches in Versailles endete. Diese Jahre brachten – als direkte Folge der von Frankreich eingezogenen Reparationszahlungen – zunächst einen kolossalen wirtschaftlichen Aufschwung für Berlin, dessen Bevölkerung durch die allgemeine Landflucht ohnehin dramatisch zuzunehmen begann. Dieser markante Erweiterungsschub wurde durch Boden- und Immobilienspekulation noch angeheizt. Die Bevölkerung stieg von circa 800 000 im Jahr 1871 auf circa 2 Millionen bis 1912 und 4,5 Millionen bis circa 1930, wobei dieser Anstieg nicht ausschließlich auf  Zuzug, sondern auch auf Eingemeindung zurückzuführen ist. Darüber hinaus befand sich die Stadt (wie der Rest Deutschlands) zu diesem Zeitpunkt mitten in der Industrialisierung. Firmen wie AEG, Siemens, Osram und viele mehr expandierten in der neuen Reichshauptstadt. Berlin erlebte den Neubau ganzer Quartiere. Es war die Zeit der so genannten Millionenbauern, als fünfgeschossige Mietskasernen direkt auf den Feldern am damaligen Stadtrand errichtet wurden. Die Hauptstadt erlebte den Ausbau ihrer Bahn- und Straßennetze und natürlich die Konstruktion der wesentlichen für die Regierung notwendigen Repräsentativbauten wie den Reichstag, dessen erste Planungsphasen 1872 begannen, der allerdings erst in den neunziger Jahren fertig gestellt wurde.

Vergleicht man die zweite Gründerzeit mit der ersten, so fallen zunächst die Ähnlichkeiten ins Auge. Seit 1989 ist in Berlin das gesamte innerstädtische und Fern-Bahnnetz inklusive zahlreicher U- und S-Bahnhöfe renoviert und erneuert, ist ein neuer Straßen- und Bahntunnel unter dem Tiergarten errichtet worden, und ein neuer Zentralbahnhof ist im Bau. Etwa 19 Millionen Quadratkilometer Büroflächen, 16 Millionen Quadratkilometer neue Gewerbeflächen sind entstanden, und ungefähr 145 000 Wohnungen sind in der Stadt neu gebaut worden, weitere 100 000 in der unmittelbaren Umgebung. Die Gesamtinvestition in den Wiederaufbau der Hauptstadt betrug zwischen 1990 und 2000 250–300 Milliarden DM, also bis zu 150 Milliarden Euro oder 15 Milliarden Euro pro Jahr in jedem Jahr.

Mit den 1870er Gründerjahren ging eine dynamische bauliche Entwicklung mit dramatischer Spekulation und auch empfindlichen Verlusten einher. Im Gegensatz zu den ersten sind die zweiten Gründerjahre jedoch von stagnierenden, in der Innenstadt sogar abnehmenden Bevölkerungszahlen gekennzeichnet. Man geht jetzt von einer Bevölkerung von Groß-Berlin von um die 3 Millionen Einwohnern aus. Von der einst florierenden Industrie ist nur noch ein kleiner Rest vorhanden, Berlin ist im Begriff, eine Dienstleistungsmetropole zu werden und hat bereits jetzt angeblich das größte Jobangebot auf diesem Sektor in Deutschland, wobei die Arbeitslosigkeit um die für den Osten des Landes nicht unüblichen 15 Prozent schwankt.

Während die Reichsgründung 1871 nach dem aus nationaler Sicht als Erfolg empfundenen Sieg von Sedan folgte, sind die Wiedervereinigung Deutschlands und der Regierungsumzug nach Berlin de facto der letzte Mosaikstein in der Wiederherstellung Deutschlands nach der selbst verursachten Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Der Triumph der so genannten Stillen Revolution von 1989 und der Sieg über ein ungerechtes Regime in der ehemaligen DDR erfolgte zeitgleich mit der Wiederauferstehung einer ganzen Reihe von nationalen und internationalen Fragen, die seit dem Krieg geschlummert hatten, unter ihnen die Gretchenfrage nach der deutschen Identität.

Die Städtebaupolitik West-Berlins hatte zur Zeit der Wende gerade ein Stadium erreicht, in dem die Reparatur (im Gegensatz zur „Sanierung“) der existierenden Stadt zum offiziellen Thema geworden war. Es wurde die Strategie der „kritischen Rekonstruktion“ begründet. Andererseits wurde von einer übergreifenden Stadtplanung für Ost- und West-Berlin (die bis dahin zumindest nominell eine heilige Kuh gewesen war) vorsichtig Abstand genommen. Die Doktrin der „zwei Zentren“, gemeint waren der Kurfürstendamm und der Alexanderplatz, deutete zum ersten Mal eine gewisse Akzeptanz der geteilten Stadt an.

Darüber hinaus verstand die West-Berliner Architekturszene sich als das Laboratorium Europas, und es galt seit den 1950er Jahren als Selbstverständlichkeit, die Avantgarde der Welt nach Berlin einzuladen, um am Diskurs über die Zukunft dieser Stadt teilzunehmen. 1989 wurde diesem Laboratorium nun das größte und spannendste Experiment angeboten, das denkbar war, nämlich die Wiedervereinigung dieser Stadt, durch die die Trennlinie zwischen NATO und Warschauer Pakt, zwischen Kapitalismus und Sozialismus verlaufen war. Mitten in einer existierenden europäischen Metropole waren sehr große Flächen zu bebauen, die eine noch nie da gewesene Lösung forderten. Der Moment größtmöglichen Potenzials paarte sich jedoch mit einem tragischen Mangel an Vorstellungskraft.

Wie allgemein bekannt ist, wurde die „kritische Rekonstruktion“ im Wesentlichen um ihr so entscheidendes Adjektiv erleichtert, und es machte sich insbesondere für die Innenstadt mit Macht eine Baupolitik breit, die nicht nur in ihren städtebaulichen, sondern auch in ihren architektonischen Ansätzen auf der Referenz zu historischen Mustern als einzigem klar artikulierten Qualitätskriterium bestand. Die offizielle Begründung für diese Strategie beruhte auf zwei Vorstellungen: Erstens galt es nicht nur die Schäden des Zweiten Weltkrieges, sondern auch die der Wiederaufbauplanung wieder gutzumachen (der zweite Bestandteil dieses Gedankens ist, wie es scheint, eine verspätete Abrechnung der 68er-Generation mit ihren Vätern), und zweitens galt es die Stadt, nicht einzelne Häuser wieder aufzubauen. Und nach den Vorstellungen des durch beinahe all diese Jahre bestimmenden Senatsbaudirektors Stimmann, müsste diese „nicht neu erfunden werden“. Im Gegenteil, es war von diesem Standpunkt aus der Geist der Innovationen gewesen, der die Stadt in den fünfziger und sechziger Jahren zerstört hatte.

Dieses experimentierfeindliche Klima führte zu einer Rekonstruktion der Innenstadt, die – architektonisch von ziemlicher Mittelmäßigkeit – mehr oder weniger das erreichte, was gewünscht war: ein relativ homogenes Stadtbild, das auf den ersten Blick eine ungebrochene, kontinuierliche Geschichte dieser Stadt seit den ersten Gründerjahren suggeriert, als das „steinerne Berlin“ (wie Werner Hegemann es kritisch betitelte) mit seinen Blöcken und Straßen, seinen Hinterhöfen sowie mit seinen 22 Metern Berliner Traufhöhe gebaut wurde.

Die offensichtlichen Brüche in der deutschen Geschichte der Nachfolgezeit werden dabei quasi exemplarisch abgehandelt. Eines der größten und repräsentativsten Grundstücke im Kuchen der Stadt wurde für das so genannte Holocaust-Denkmal bereitgestellt, das sozusagen ein für alle Mal die Geister des Dritten Reichs zur Ruhe zwingen soll. Keine 200 Meter entfernt steht aber gleichzeitig das Haus Liebermann, heute ein repräsentatives Gebäude einer Bank, das im historisierenden Stil wieder aufgebaut wurde. Nichts (abgesehen von einer Gedenktafel) deutet darauf hin, dass den ehemaligen Besitzern des Hauses, das einmal an dieser Stelle stand, dem Maler Max Liebermann, dem Vorsitzenden der direkt gegenüber liegenden Akademie der Künste, und seiner Frau als jüdischen Mitgliedern des Berliner Großbürgertums tödliches Unrecht zugefügt worden war. Nichts lässt darauf schließen, dass mit dem Holocaust eine ganze Bevölkerungsschicht, die die Entwicklung der Berliner Gesellschaft verantwortlich vorangetrieben hatte, so gut wie vernichtet wurde.

Die „kritische Rekonstruktion“ am Pariser Platz ist wie anderswo in der Friedrichsstadt inzwischen weitgehend abgeschlossen. Der historische Grundriss ist wiederhergestellt, die Proportion der barocken Bauten (beziehungsweise ihrer Überformungen aus dem 19. Jahrhundert) ist eingehalten worden. Die Architektur erinnert an die historischen Vorbilder, die Erdgeschosse sind mit Läden gefüllt.

Doch welche Stadt wurde hier zum Leben erweckt? Es ist eine Stadt, die sich (und den Touristen) mühsam ein Bild althergebrachter „Urbanität“ konstruiert hat, ein Bild, das implizit die Diskontinuität der historischen Stadt, sprich den Krieg und seine Folgen, auszulöschen versucht. Dieser Wiederaufbau ist nicht mehr das Resultat dynamischer Kräfte, sondern in erster Linie das einer Inszenierung, die eine beinahe verzweifelte Sehnsucht nach der großen Stadt allzu deutlich spüren lässt.

Ganz im Gegensatz zu den ersten Gründerjahren, die in eine unbestimmte Zukunft hineinprojizierten, sind diese Gründerjahre in die Vergangenheit gerichtet; es wird versucht, die Geschichte neu zu schreiben, und was am Ende dabei herauskommt, ein artifizielles Konstrukt, ist eine „Erlebnis-Stadt“ mittelmäßiger Qualität. Während die Berliner Stadtplanung in typisch deutscher Humorlosigkeit dabei auch noch mit dem erhobenen Zeigefinger des Weltverbesserers auftritt, bereitet sie letztlich doch nur bequeme Bilder, die mehr oder weniger erfolgreich kommerziell verwendet werden können. Was entstanden ist, erscheint zumindest einem kritischen Betrachter etwas ernüchternd, ist doch offenbar nur wenig Überraschendes gewagt worden – nur wenig, was den Intellekt und die Intelligenz herausfordert und was weder die besondere Situation, aus der diese Neugründung entstanden ist, erahnen lässt noch wirklich neue Akzente setzt.

Die Stadt Berlin lebte seit dem Zweiten Weltkrieg vom Mythos der großen Stadt. Wie in den geerbten Kleidungsstücken eines Vaters oder großen Bruders versuchten zumindest die West-Berliner sich in einer Stadt einzunisten, die sie vorgefunden hatten. Eine kontinuierliche (von Bundesmitteln gestützte) Frontstadt-Industrie versuchte den Mythos der Kultur- und Innovationsmetropole aufrechtzuerhalten und an den Ruf der goldenen Zwanziger anzuknüpfen. Dass in Wirklichkeit außer einer gewissen Anspruchshaltung und Großkotzigkeit in der Stadt nicht viel Substanz vorhanden war, ist ein Umstand, der jetzt auf allen Ebenen zum Ausdruck kommt.

Dabei stellt der Mythos als solcher – wie wir vom Börsenmarkt wissen – bereits ein erhebliches Kapital dar. Dieses Image der dynamischen, immer wieder überraschenden, lebendigen Metropole zugunsten eines Ortes historischer Kontinuität ersetzen zu wollen (die ohnehin nur inszeniert ist) ist ein schwerer Fehler. Honorige, geschmackvolle und wohl geordnete Städte gibt es viele. Die Qualität, die diese Stadt ausmacht oder zumindest ausmachte, ist in Karl Schefflers berühmtem Wort enthalten, „dass Berlin dazu verdammt sei, ewig zu werden und niemals zu sein“.

Die letzten zehn Jahre der Entwicklung Berlins waren aufregende Jahre schon allein wegen der Quantität der Entwicklung und ihrer Logistik, und man kann nicht sagen, dass in dieser Stadt nichts entstanden sei. Jedoch ist es trotz der enormen Investitionen nicht gelungen, ihr eine Zukunft zu geben, die über die eines Regierungssitzes hinausginge. Der Geldfluss hat nachgelassen, und wir stellen fest, dass nicht viel geblieben ist. Bleibt nur zu hoffen, dass der Zusammenbruch der alten West-Berliner Strukturen, den die Stadt im Augenblick erlebt, nicht noch biederere und restriktivere Denkweisen hervorbringt, sondern dass die Notlage den Entwicklungsgeist beflügelt. Es wäre zu wünschen, dass der Architektur dabei die Kommunikationsfähigkeit zugestanden wird, zu der sie im Prinzip imstande ist.

 

Beitrag zu den 4. Potsdamer Gesprächen in Moskau, zuerst publiziert im September 2002. Sodann veröffentlicht in Sauerbruch Hutton. Archive. Baden: Lars Müller Publishers, 2006