Gebäude entstehen nicht ohne einen Auftraggeber und seine besonderen Wünsche, ohne Marktwertberechnung und Budget, ohne Ausschreibungen und Wettbewerb, ohne Kostenoptimierungen und so fort. Die enge Beziehung zwischen dem Bauen und dem Markt mit den ihm eigenen Mechanismen ist offenkundig. Es mag daher im Rahmen einer Preisverleihung, die sich ausschließlich mit ausgeführten Bauvorhaben befasst, naiv erscheinen, die Frage nach einer Architektur zu stellen, die die Bedingungen ihrer eigenen Entstehung kritisch in Frage stellt. Naiv auch die Erwartung, ein Werk müsse den Status Quo unserer Kultur, beispielsweise die zunehmende Kommerzialisierung und Verbreitung einer reinen Ereigniskultur, kritisch hinterfragen oder unser allumfassend von Medien dominiertes Bewusstsein mit seiner eigenen Ökonomie der Aufmerksamkeit kritisch betrachten. Doch andererseits – vielleicht ist genau dies die einzig angemessene Fragestellung.

Bei der Auszeichnung eines außergewöhnlichen architektonischen Werks im Rahmen dieses Wettbewerbs sind für mich drei verschiedene Bewertungsmaßstäbe relevant: Da sind zunächst die Programme als solche, dann das Maß, in dem durch eine architektonische Intervention diese Programme zur Blüte gebracht werden, und zuletzt der Beitrag, den ein Haus für die Allgemeinheit leistet. In einem guten Bau muss es etwas geben, was eine unerwartete Qualität verleiht, etwas, was bereichert – wie zum Beispiel die Erfindung eines neuen öffentlichen Raums durch die Schaffung einer offenen Ausstellungshalle für zeitgenössische Kunst. Oder die Einrichtung einer städtischen Infrastruktur, die nicht nur auf umweltverträgliche Art und Weise die allgemeine Mobilität verbessert, sondern auch einen räumlichen, ästhetischen und atmosphärischen Rahmen schafft, der eine gesamte Stadt über Generationen prägt. Oder so etwas wie einen sozialen Mittelpunkt für eine der künstlichen Gemeinden, die irgendwo in Euroland zwischen Politik, Marktkräften, Flughäfen und Autobahnen angesiedelt sind.

Eine solche Qualität programmatischer Intelligenz hängt natürlich stark von der Zusammenarbeit mit oder gar der Führung durch einen Bauherren ab. Ein Architekt wird einen Bau kaum ohne dessen Einverständnis ausführen können. Andererseits ist auch der Bauherr nicht in der Lage, ohne einen entsprechenden Raum ein Programm erfolgreich umsetzen zu können. Somit steht beim zweiten Kriterium das architektonische Können im Vordergrund: die Schaffung von Räumen als Reaktion auf eine programmatische Idee. Hat die Architektur ihr Potenzial genutzt und eine alltägliche Routine in einen bemerkenswerten Moment verwandelt, ist es ihr gelungen, einem banalen Ereignis ein Gefühl von Anmut zu verleihen? Hat diese Architektur ihre Möglichkeiten ausgeschöpft, ihr Repertoire an Assoziationen, Andeutungen und Versprechen eingesetzt, die einen zweckmäßigen Raum in ein außergewöhnliches Erlebnis verwandeln können? Hier haben Architekten tatsächlich eigenen Spielraum, hängt es doch ausschließlich von ihrem Einfallsreichtum und ihrer Integrationsfähigkeit ab, ob beispielsweise eine Bushaltestelle in einen sinnlichen Ort quasi-natürlicher Räumlichkeit oder der Kontakt mit einem Amtsgebäude in ein elegantes Ereignis verwandelt werden kann, das Neugierde erweckt und zur Identifikation einlädt.

Es bedarf so etwas wie Eltern, um einen Bau zu einem Wesen zu machen, und die Herstellung eines Gebäudes kann durchaus mit der Erziehung eines Kindes verglichen werden. Zum Zeitpunkt ihrer Geburt mag eine architektonische Idee noch sehr subjektiv sein, doch im Zuge ihrer Entwicklung zu einem Gebäude muss sie – genau wie bei einem Menschen – in einen kollektiven Zusammenhang eingepasst werden, ohne dabei ihre Individualität einzubüßen. Das dritte Kriterium bezieht sich daher auf die Fähigkeit, eine architektonische Idee umzusetzen. Ich bin der Überzeugung, dass die Sorgfalt, mit der ein Ort gemacht ist, in gewisser Weise dem Gemeinsinn entspricht, der einem Projekt innewohnt.

Natürlich sind die Produktionbedingungen für Architektur nicht immer dieselben. Wenn ich die Auswahl der Arbeiten und die Diskussionen der Jury anlässlich dieser Preisverleihung Revue passieren lasse, werden für mich die großen Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft sehr deutlich sichtbar, was die jeweilige Baukultur und den eigentlichen Bauprozess betrifft. Das Spektrum reicht vom „alten“ zum „neuen“ Europa, von einem Verständnis von Architektur als öffentlicher Angelegenheit (mit all dem entsprechenden Flair der Institutionalisierung) bis hin zur mehr oder weniger vollständigen Preisgabe der gebauten Umwelt an die privaten Kräfte des Marktes. Im Gegensatz zu der politischen Rhetorik, der diese Begriffe entliehen wurden, entspricht die Unterscheidung zwischen alt und neu nicht immer den Staatsgrenzen, sondern sie verläuft meist quer durch die europäischen Gesellschaften.

So müssen Architekten selbst bestimmen, wo sie stehen: Geben sie dem hier wie in jedem anderen Gewerbe herrschenden Druck nach, akzeptieren sie die Logik des Marktes und schwimmen sie mit dem Strom, oder sind sie couragiert genug, an der altmodischen Idee des Architekten als Sachwalter des Gemeinwohls festzuhalten?

Wählen sie Letzteres, stoßen sie auf Ablehnung: Die Öffentlichkeit traut Architekten nicht mehr sehr viel zu, seitdem in den Sechzigern und Siebzigern fehlgeschlagene Experimente im Namen ebendieses Gemeinwohls den Glauben an die Profession weitestgehend zerstört haben.

Als Antwort auf die drohende Marginalisierung hat sich der Berufszweig bemüht, sich selbst neu zu erschaffen. Schon vor Jahren verglich Rem Koolhaas den Architekten mit einem Surfer. Da es keinen Sinn macht, sich der Welle des Kapitalismus entgegenzustellen, sollte er sich dessen Energie wenigstens für seine Arbeit zunutze machen. Gibt es einen clevereren Weg, unsere eigene Lähmung zu glorifizieren? Und was nützt dieser Gemeinplatz verantwortungsvollen Architekten heute? Müssen sie sich einfach an die Rolle des Lonesome Cowboy (oder des Don Quijote) gewöhnen, der versucht, im Alleingang „die Welt zu ändern“?

Die Liste der Nominierungen für diesen Preis bestätigt den Verdacht, dass es doch eine ganze Reihe von Lonesome Cowboys gibt. Und die Cowboy-Bewegung hat auch bemerkenswerte Resultate hervorgebracht. Nicht wenigen Werken scheint es eben doch zu gelingen, für eine kollektive Qualität und eine intelligente Kultur einzutreten.

Vielleicht sollte man sich fragen, wie diese Leistungen (die größtenteils hohen persönlichen Risiken und Opfern zu verdanken sind) geschützt und gefördert werden können und wie urbane Architektur aus ihrem selbst verschuldeten kulturellen Exil befreit werden kann.

Die Antwort hierauf liegt sicherlich in einer anderen Art der Gemeinsamkeit. Vielleicht ist der Mies-van-der-Rohe-Preis selbst ein Beispiel kritischer Architektur: ein starkes Netzwerk, das aufgeklärte Bauherrenschaft fördert und außerordentliche architektonische Bemühungen und Leistungen (gerade in alltäglichen Situationen) belohnt, das im weiteren kulturellen Umfeld kommuniziert und zum Dialog anregt sowie Unterstützung in allen Ländern der Europäischen Union und der Welt sichert.

 

Beitrag zum Katalog des Mies van der Rohe Preis, 2003. Veröffentlicht in Sauerbruch Hutton. Archive. Baden: Lars Müller Publishers, 2006